Heinz Martin Lonquich,
deutscher Komponist und Kirchenmusiker aus Köln,
Träger der Orlando-di-Lasso-Medaille:
Die Musik von Johann Sengstschmid ist historisch nicht
leicht einzuordnen: Sie gehört keiner der allgemein bekannten Stilrichtungen
an und stellt insofern eine Besonderheit dar, als sie beim Hören einen durchaus
der traditionellen melodischen, harmonischen und rhythmisch-metrischen Schreibweise
verpflichteten Eindruck macht. Was sie auszeichnet, ist eine große Ausgewogenheit.
Es gibt keine Extreme. Der Raum der Tonalität - wenn auch nicht unbedingt
einer traditionellen - wird nie überschritten, obwohl die Musik sich von
einer 12-tönigen Satzlehre herleitet und auf dem von J. M. Hauer gefundenen,
sich aber von Arnold Schönbergs Methode der Komposition mit 12 gleichberechtigten
Tönen grundlegend unterscheidenden Zwölftonsystem aufbaut, das Othmar
Steinbauer zu seiner Klangreihenlehre weiterentwickelt hat, die auch Sengstschmids
Kompositionsmethode zugrunde liegt.
Um eine auf dieser Klangreihenlehre
aufbauenden Musik richtig zu verstehen und innerhalb der europäischen Musikgeschichte
zu bestimmen, d. h. ihren Standort auszumachen, muss man wissen, dass J. M. Hauer
in seiner Zwölftonmusik und vor allem in seinen über 1000 Zwölftonspielen
das Komponieren für sich selbst neu definiert als eine Ordnung, die seit
Ewigkeiten besteht, weil in der Schöpfung eingeprägt und vom Komponisten
lediglich neu aufgefunden wird und gedeutet werden muss. Hauer selbst lehnte die
gesamte Musikentwicklung seit den Griechen der Antike ab und kennt auch in letzter
Konsequenz weder einen Personalstil noch eine Weiterentwicklung, lediglich eine
Entfaltung des einmal entdeckten Gesetzes seines Zwölftonsystems. Othmar
Steinbauer wie auch Johann Sengstschmid durchbrachen diese äußerste
Strenge; aber indem sie auf Hauers Ideen fußen, knüpfen sie letzlich
an das ahistorische Denken Hauers an.
Sowohl das Hauersche Zwölftonsystem
als auch die Klangreihenlehre bezieht sich nahezu ausschließlich auf die
Bestimmung der Tonhöhe in einem musikalischen Organismus, unabhängig
von der Tonlage. Die rhythmisch-metrischen Muster, die auch Johann Sengstschmid
in seinem Werk durchweg benutzt, gehen kaum über die in der Barockmusik gebräuchlichen
Bildungen hinaus, wobei man sagen muss, dass auch in der Musik der Klassik und
der Romantik, ja bis hinein in die Moderne, etwa Paul Hindemiths, grundsätzlich
die Entwicklung des Rhythmus weit hinter der der Harmonik zurückbleibt, jedenfalls
in der mitteleuropäischen Musik. Es scheinen quasi archetypische Muster zu
sein, die ihre Herrschaft über Jahrhunderte beibehalten, Muster, die auf
den einfachsten und elementarsten Zahlenproportionen beruhen.
Wie Sengstschmid
sich grundsätzlich von jeder Art Atonalität einer vormaligen Avantgarde
der Schönberg-Webern-Nachfolge distanziert (was sich zwangsläufig aus
der Klangreihenlehre ergibt, aber sicher auch ästhetische und hörpsychologische
Gründe hat), ebenso beschränkt er sich auch auf die über Jahrhunderte
tradierten rhythmisch-metrischen Muster. Er scheint weder Taktwechsel (schon gar
erst Wechsel des Grundpulses wie etwa bei Messiaen), noch fünfer, siebener
oder sonstige kompliziertere Taktarten, noch Quintolen, Septolen oder gar die
Gleichzeitigkeit solcher rhythmischer Bildungen in seinen Kompositionen als Gestaltungsmittel
einzusetzen (obwohl dies vermutlich innerhalb der Klangreihenlehre möglich
wäre). Sengstschmid entscheidet sich auch hier für die Beschränkung,
die ebenso wie die melodisch-harmonische Komponente für die innere und äußere
Ausgewogenheit sorgt.
Unberücksichtigt bleibt auch die Weiterentwicklung
des Klangfarbenspektrums. Offensichtlich sieht der Komponist keine innere Notwendigkeit,
solche seit Beginn der sogenannten Moderne weit vorangeführte Neuentdeckungen
in sein Werk zu integrieren. In dieser Traditionsverbundenheit steht er sicherlich
einzig da innerhalb der allgemeinen Entwicklung der Musik im 20. und beginnenden
21. Jahrhundert.
Aber ist dieser Standort nicht durchaus respektabel? Finden
sich die vielen auf der Stelle tretenden, auf hundertmal ausgetretenen Pfaden
der Avantgarde von gestern und vorgestern, mühsam sich zu artikulieren bemühenden
jüngeren Komponisten, die ihr Heil suchen in irgendwelchen Nischen, die möglicherweise
noch nicht vollbesetzt sind, in einer achtbareren Position innerhalb einer zumindest
zur Zeit weitgehend stagnierenden historischen Entwicklung? Wo finden sich heute
unter den jungen Adepten solche, die zumindest sich auf einen Personalstil hin
bewegenden Persönlichkeiten? Haben sie überhaupt etwas zu sagen, was
der Beachtung wert ist? Natürlich sind sie in ihrer Lage nicht zu beneiden.
In der pluralistischen Gesellschaft scheint alles gleich gültig, was bedeutet,
"gleichgültig" zu sein.
Johann Sengstschmid kann hingegen
auf ein Lebenswerk zurückblicken, das in seiner Geschlossenheit zeugt von
einer großen Stabilität und künstlerischen Verantwortung. Viele
seiner Kompositionen werden getragen von einer spürbaren Spiritualität.
Früh hat er seinen eigenen Weg gefunden und ist auch fachlich absolut unanfechtbar.
Sengstschmids
Musik mit den "richtigen Ohren" zu hören setzt voraus, dass man
sie vorurteilsfrei hört. Dann erschließt sie sich selbst dem musikalischen
Laien und Musikliebhaber leicht. Es sei ein Vergleich mit dem religiösen
Glauben gestattet: entweder man öffnet sich einem Glauben oder man verschließt
sich. Dem, der sich Sengstschmids Musik öffnet, bereitet sie beträchtlichen
Hörgenuß, weil sie in sich stimmig und im besten Sinn harmonisch ist.