Bis vor hundert Jahren war es in der europäischen Musik eine Selbstverständlichkeit,
sich der jeweils vorherrschenden zeitgenössischen Musiksprache zu
bedienen. Zur Barockzeit etwa hatte man kein Bedürfnis, Renaissancemusik
zu spielen, und der Beethovenzeit waren Barockkompositionen oder gar außereuropäische
Werke fremd. Überhaupt bestand das
frühere Musikleben normalerweise darin, Werke für den aktuellen Bedarf
oder Auftragswerke, jedenfalls also Werke lebender Komponisten, aufzuführen.
Aus damaliger Sicht "alte Musik" brachte man nicht zu Gehör; sie
zu kennen oder gar studieren zu können, das war wenigen Eingeweihten vorbehalten.
Erst als die sogenannte "klassische" Musik sich immer weiter
vom Harmonischen entfernte und solcherart in einen elitären Elfenbeinturm
hineingeriet, erlosch unaufhaltsam die allgemeine Liebe zur zeitgenössischen
Klangwelt. Der Glaube, daß heutiges Tönen überhaupt schön
sein könne, ging dem Menschen verloren, und der Schwerpunkt des Musiklebens
verlagerte sich auf Traditionen vor 1900. Aber auch die Reize afro-amerikanischer
oder asiatischer Einflüsse wurden entdeckt, was zu einer teilweisen Einbuße
europäischer Identität zugunsten überseeischen Zivilisationsempfindens,
orientalischer Meditationsvorlieben u.ä. führte. Gäbe es heutzutage
eine zeitgenössische "klassische" Musik, die endlich wieder klangschön
ist und dabei eine aus europäischer Tradition erwachsene heutige Musiksprache
spricht, also kein 150. Aufguß eines Händel oder Schubert, eines Richard
Strauss oder eines Carl Orff ist ("epigonaler Abklatsch traditioneller Ausdrucksweisen
mit falschen Tönen, aufgepfropften afro-amerikanischen Rhythmen oder mit
computererzeugten Klangfarben"), dann wäre das ein ganz wichtiger identitätsfördernder
Zukunftsimpuls: Sie würde zur Rückgewinnung der Hörerschar und
damit zur Hebung des Musiklebens, des Kulturstandards, ja der ganzen Lebensqualität
beitragen, denn die Existenz einer wohlklingenden heutigen Musik würde
zu einem Angelpunkt der Erneuerung wertbestimmten Lebens. Schön
wäre es. Nein, schön ist es! Es gibt bereits eine solche Musik:
die Klangreihenmusik.
Weithin unbemerkt wuchs sie in den letzten etwa 70 Jahren in wohlklingender
Tonsprache heran, nachdem - brückenschlagend zwischen traditioneller und
klangreihenbezogener Akkordwelt - die gemeinsamen harmonischen Klanggesetze erkannt
worden waren. Diese Klangreihenmusik
also - die "andere" Zwölftonmusik
- ist harmonisch. Sie klingt
wohltönend und unverkrampft wie die herkömmliche "klassische"
Musik (dafür ein Beleg),
geht aber nicht wie jene von siebenstufigen Tonleitern aus, sondern beruht auf
allen zwölf Tönen. Zwölftönigkeit
- in rechter Weise eingesetzt - muß nicht entsetzliches Getön gebären.
Wer sich um 7.000 Währungseinheiten etwas Schönes kaufen kann, der bleibt
in der Lage, auch um 12.000 noch etwas Schönes zu erhalten; warum
soll das in der Musik anders sein? Nach welcher Logik vermag nur Siebentönigkeit
eine harmonische Musik zu ermöglichen, während das um fünf Töne
reichere Tonmaterial zum Gegenteil führt? Es kommt eben auf die rechte Handhabung
an. Marcel Reich-Ranicki stellte einmal im "Literarischen
Quartett" pointiert fest, Musikkritiker schrieben allenfalls über
Stockhausen, legten aber daheim zur späten Stunde eher Brahms auf den Plattenteller,
und wenn man sich sonst unter kulturell Interessierten umhört, dürfte
man selten jemanden finden, der seine Seele bei serieller Musik baumeln läßt.
Wie bereits angedeutet, gibt es im 20. und 21. Jahrhundert - wenn auch weitgehend
unentdeckt - dank der Klangreihenmusik ein harmonisches Tönen, das sich zur
"Recreation des Gemüths" eignet. Klangreihenmusik
ist eben "normale" Musik, der man zutrauen kann, (frei nach Mozart)
dem Laien zu gefallen und den Fachmann zu interessieren. Damit befindet sie sich
jedoch zwischen allen nur denkbaren Stühlen:
|