Mag.
Johann Sengstschmid, Prof. i. R. Buchmayrstraße 1/11 A-3100 St. Pölten | Tel.:
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Wir fordern, daß die Schönheit in ihre uralten Rechte wiedereingesetzt wird. (Jörg Mauthe / Günther Nenning, aus dem "Schönheitsmanifest", 1984) |
Klangreihenmusik: Musik mit neuer "Antriebskraft" |
1968 brachte ich mein Skriptum "GRUNDLAGEN DER KLANGREIHENLEHRE" im Selbstverlag heraus, und nachdem ich auf vieles eingegangen war, schloß ich das Werk mit folgenden Gedanken, in denen ich unter anderem auch Othmar Steinbauers Automobil-Vergleich - geäußert beim Anblick eines Oldtimers - aufgegriff: |
Nimmt man dieses oder jenes Werk der Klangreihenmusik zur Hand, dann wird man einmal mehr, einmal weniger feststellen, daß es sich in einem musikalischen Gewand bewegt, welches in melisch-klanglich-rhythmischer Hinsicht einen spürbaren Zusammenhang mit gar mancher traditionellen Kompositionsweise erkennen läßt - trotz seiner Zwölftönigkeit. Ein derartiges Merkmal sei jedoch nicht negativ gewertet, etwa in dem Sinn, daß dies eher als epigonale denn als moderne Musik anzusprechen sei beziehungsweise daß man zu solchen oder ähnlichen Ergebnissen ja gar nicht notwendigerweise einer neuen Musiktheorie bedürfe. Einerseits ist es für den Hörer, vor allem für den mehr konservativ eingestellten, sowie für den Interpreten leichter, wenn sie an bereits Bekanntes anknüpfen können, und andererseits entwickelt auch ein Komponist, der neue musikalische Pfade auf Grund einer inneren Notwendigkeit zu betreten beabsichtigt, zuallererst seine Erfahrungen an Hand der Tradition; er stößt bekanntlich zum Neuen auf Grund von Maßstäben vor, welche er aus Früherem gewonnen hat, und wächst erst allmählich in jene spezifischen Gestaltungsweisen hinein, die in seiner Persönlichkeit angelegt sind. Das ist ja nicht nur in der Musik so; auch andere Bereiche weisen ähnliche Merkmale auf: Wenn man beispielsweise der Entwicklung des Automobils etwas nachspürt, dann wird man ebenfalls entdecken, daß die Formen, welche diese Fahrzeuge in ihrem Anfangsstadium (etwa vor und um 1900) besaßen, mit jenen von Pferdekutschen eine auffallende Ähnlichkeit aufwiesen. Das ist nicht verwunderlich, denn in beiden Fahrzeugen sah man in Hinblick auf ihre Funktion als Transportmittel so viel Gemeinsames, daß vorerst gar keine zwingende Notwendigkeit entstand, um jeden Preis eine völlig andersaussehende Formtype zu suchen. Solche Momente waren freilich mehr äußerlicher Natur, denn ein ganz wesensmäßiger Unterschied erwuchs durch die Art, wie das Fahrzeug von der Stelle bewegt wurde - ob mit Hilfe von Pferden oder mittels eines Motors - , und diese neue Antriebskraft, die übrigens auch in der Namengebung "Automobil" zum Ausdruck kam, war es, die den allmählichen Umformungsprozeß auslöste und zu immer neueren Gestaltungen drängte, von denen man sagen kann, daß sie dem Wesen des Autos eher gerecht wurden. Eine Pferdekutsche hätte im Laufe ihrer Weiterentwicklung - wenn das Auto nicht erfunden worden wäre - sicher nicht Formen, wie sie heute diese oder jene Autotype besitzt, angenommen, denn neue Gestaltungsimpulse ergeben sich in der Regel erst Hand in Hand mit neuartigen Prinzipien. Auch bei folgerichtiger Entwicklung der modernen Musik wäre dieser Wachstumsgrundsatz beherzigenswert. Eine neue Satzlehre, wie sie die Klangreihenlehre darstellt, muß nicht sogleich zu Werken führen, deren Formgebung im großen sowie im kleinen sich völlig von dem unterscheidet, was die traditionelle Musik aufzuweisen hat. Dennoch ist an solchen Kompositionen viel grundsätzlich Neues zu entdecken, und im Laufe der Zeit wird jenes musikalische Gewand, das mehr einem älteren Bereich entstammt, abgelegt, während sich nach und nach sowie ohne radikalen Bruch so manch neue Gestaltungsweise durch die Anwendung der neuartigen Kompositionsprinzipien bildet. Es geht schließlich nicht darum, auf der Basis überkommener Systeme - oder auch gar keiner Systeme - nach einer um jeden Preis andersgearteten Formgebung zu streben, vielmehr ist eine neue "Antriebskraft", also eine neue musiktheoretische Grundlage, einzusetzen, denn sie erst bildet ein echtes Fundament für die folgerichtige Weiterentwicklung der Musik. Im übrigen entspricht es einer eher irrigen Denkungsweise, wenn man bei jeder Novität sensationslüstern eine noch nie dagewesene Gestaltungsweise erwartet; wie langsam hat sich doch die traditionelle Musik entwickelt, indem eine Gestaltungsweise folgerichtig und natürlich aus der anderen hervorgegangen ist, und wir verehren unsere großen Meister doch weniger wegen ihrer originellen Handschrift, die sich übrigens ja auch nicht sprunghaft entwickelt hat, sondern vor allem wegen der so überwältigenden Qualität der Substanz, die ihren Werken innewohnt und die immer wieder aufs Neue - trotz der vielen, vielen Aufführungen - die Menschen bewegt. Im Hinblick darauf, daß eine zeitgenössische Musik nicht unbedingt häßlich zu sein braucht, wäre es wünschenswert, wenn begnadete Komponisten unserer Tage wieder den Kontakt zum Publikum suchten, aber keinesfalls durch Konzessionen nicht vertretbarer Art, sondern dadurch, daß sie uns gute, jedermann ansprechbare Musik schenken, die dem Ideal moderner Schönheit entspricht; um solches zu erlangen, müßten sie ohne Selbstbetrug bzw. Voreingenommenheit jeden Ton, jeden Klang, jede Wendung, kurzum alles, was ihrer Feder entfließt, gleich im Stadium deren Entstehung einer eingehenden, kritischen Prüfung unterziehen, damit sich das Geschaffene vor dem musikalischen Gewissen ohne Vorbehalt aufrechterhalten läßt, denn nur auf derartige Weise erscheinen die Voraussetzungen dafür gegeben, daß den Werken moderner Musik überhaupt ein Weg zum Ohr, ja zum Herzen aufnahmewilliger Menschen möglich wird. Auf jeden Fall würde es einen groben Unfug darstellen, wenn Komponisten, welche nicht gerade kleinlich mit der "Emanzipation der Dissonanz" jonglieren, mit einer überlegenen Handbewegung ihre Verachtung für jenes "ohnedies unverbesserliche" Publikum zum Ausdruck brächten, das sich trotz willigen Anhörens ihrer Produkte doch ehrlich eingestehen muß, daß ihm diese oder jene Art der Harmonik mißfällt; schließlich ist es von der traditionellen Musik her gewohnt, Kunstwerke nicht zuletzt ihrer Schönheit wegen zu lieben, und es weiß sich innerlich im Recht, wenn es auch von der zeitgenössischen Musik ein ausreichendes Maß an Schönheit erwartet, an der sich zu erfreuen vermag. Der Kontrapunkt hat den Künstlern seinerzeit geholfen, solche Werke zu schaffen, die Harmonielehre ebenso, und die Klangreihenlehre bringt alle satztechnischen Voraussetzungen mit sich, um die jetzigen Komponisten zu unterstützen, dem gleichen Ziel mit heutigen Mitteln zu dienen. Moderne Musik sollte jedoch nicht allein Spiegelbild unserer Zeit sowie unserer Welt mit all ihren Ängsten und Grausamkeiten sein, sondern auch Spiegelbild dessen, was uns heute als erstrebenswert erscheint beziehungsweise was im positiven Sinn als zeitformend weiterwirken könnte; für Gestaltungen aus jener Sicht ist der Einsatz gar mancher Praktiken, auch musikalisch anfechtbarer, recht, dagegen benötigt man für Gestaltungen aus dieser - dem Erfreulicheren zugewandten - Sicht eine neue geordnete musikalische Grundlage, und eine solche ist mit der Klangreihenlehre gegeben. |
Johann Sengstschmid |