EIGENSCHAFTEN
DER KLANGREIHENMUSIK STEINBAUERS

 
  Wenige Monate nach Steinbauers Tod verfaßte sein Schüler Johann Sengstschmid einen Nachruf auf seinen Lehrer [siehe Fußnote 1]. Darin versuchte der Autor, nach wenigen biographischen Hinweisen vor allem in dessen künstlerisches Vermächtnis, die Klangreihenmusik mit ihren Eigenschaften, einzuführen und damit einen kleinen Einblick in Steinbauers Wollen zu gewähren.  
 
 


Johann Sengstschmid:

IN MEMORIAM OTHMAR STEINBAUER

Gründer des Konservatoriums der Stadt Wien
 


Am 5. September 1962 schloß in Altenburg bei Rotheau im Traisental eine markante Musikerpersönlichkeit, die dort jahrzehntelang den Sommer verbracht hatte, für immer die Augen. Othmar Steinbauer, Komponist und Musiktheoretiker, Verfasser des Buches "Das Wesen der Tonalität", Gründer des Konservatoriums der Stadt Wien und erster Direktor dieser Lehranstalt, Erfinder der Viellen - das sind Streichinstrumente mit ausgezeichneter klanglicher Qualität und verhältnismäßig geringen Herstellungskosten - , Violinprofessor und Leiter des Sonderlehrganges für Klangreihenkomposition an der Wiener Musikakademie, Gründer und Leiter des Seminars für Klangreihenkomposition in Wien - um nur einiges aus seinem Leben zu nennen - dieser Künstler ist für immer von uns gegangen.

Abseits jedes öffentlichen Geschehens diente er als Komponist einer Musik, die unser Jahrhundert so dringend nötig hätte. Von seinen Werken kann gesagt werden, daß sie trotz ihrer Neuartigkeit schön klingen, daß ihre Melodieführung sangbar, schlicht und einfach ist, daß diese Musik vor allem innere Ruhe und Reinheit ausstrahlt, also nicht hysterisch oder "modern" (in der negativen Bedeutung des Wortes) ist, daß sie beschaulichen Charakter aufweist - wie etwa bei einer besinnlichen Abendmusik - , daß sie eine gesunde Atmosphäre widerspiegelt, mit einem Wort, daß die Kompositionen Othmar Steinbauers wahrhaft den Anforderungen höchster Kunst entsprechen.

In ihnen kann sich jeder Musikfreund mühelos zurechtfinden, ohne daß er Musiktheorie studiert haben muß, denn sie sind einfach und schön. Schließlich wollen die ohnedies abgehetzten Menschen durch Musik nicht noch mehr aufgepeitscht werden, sondern Ruhe und innere Entspannung finden, und das bot ihnen bisher vorwiegend die traditionelle Musik; aber auch die Kompositionen Othmar Steinbauers vermögen gerade jene Seite des Menschen anzusprechen, die dieser im Grunde genommen sucht, aber in der übrigen modernen Musik nur selten finden kann.

Als Grundlage diente ihm seine Klangreihentheorie, die mit Recht von sich behaupten kann, daß sie kein extravagantes Konstruktionsschema verkörpert, sondern wie jede wahre und für die Komposition brauchbare Satzlehre organisch gewachsen ist - also Hand in Hand mit der praktischen Komposition - und daß sie der naturgegebenen Gesetzmäßigkeit der Tonwelt entspricht; wäre dies nicht der Fall, so hätte sie ja zersetzende Wirkung.

Ihr Aufbau ist klar, logisch und lückenlos; in ihr scheinen Regeln über das auf, was richtig und was falsch ist, wobei sowohl das Richtige als auch das Falsche als solches tatsächlich empfunden werden kann.

Diese neuartige, von Othmar Steinbauer entwickelte Satzlehre ist lehrbar und beeinträchtigt in keiner Weise die musikalische Entfaltung einer Persönlichkeit, da die volle Freiheit für die kompositorische Gestaltung gewährleistet ist.

Bei dieser Lehre handelt es sich somit nicht um einen neuen Stil oder um eine neue Richtung; sie ist eine neuartige Kompositionslehre, die ebenso wie Kontrapunkt oder Harmonielehre die verschiedensten Stile und Richtungen, aber auch eine wertvolle und eine weniger gehaltvolle Musik zuläßt.

Das Klangreihensystem ist allerdings kein Siebentonsystem, sondern es beruht auf der Gegebenheit der zwölf Töne, hat jedoch mit der "Reihentechnik" jener Musik, welche man allgemein als "atonal" oder als "Zwölftonmusik" bezeichnet, nichts zu tun. Es geht vielmehr von einigen grundlegenden Erkenntnissen des Musikers Josef Matthias Hauer aus, eröffnet aber durch seine Gestaltungsprinzipien, die von denen abweichen, die dieser im allgemeinen und bei seinem "Zwölftonspiel" im besonderen anerkannt hat, gänzlich andere Wege.

Wie bereits erwähnt, gewährleistet dieses neue System ebenfalls die gesetzmäßige Bildung der Zusammenklänge und deren Aufeinanderfolge, denn in ihm herrscht das Gesetz der diatonischen Fortschreitung [siehe Fußnote 2], wenn auch mit andersgearteten Auswirkungen als den bisher gewohnten. Die Klangreihenlehre negiert somit in keiner Weise die älteren bewährten Kompositionslehren, sondern läßt mit diesen einen deutlich erkennbaren inneren Zusammenhang erkennen.

Es ist ja hinlänglich bekannt, daß kein Tonsystem in der Lage ist, sämtliche Möglichkeiten der Harmoniebildung und der Klangfortschreitung, die es auf Grund der Gesetzmäßigkeit der Tonwelt schlechthin geben kann, in einfacher und systematischer Weise zu erfassen. Naturgemäß werden bei jedem neuen System gewisse Prinzipien durch andere ersetzt.

So wurden auch in den letzten hundert Jahren - natürlich vom bekannten Siebentonsystem der Harmonielehre ausgehend - immer häufiger alle zwölf Töne verwendet. Allerdings ist es gegen die Natur jedes siebentönigen Systems, wenn es zusätzlich auch alle jene neuen Möglichkeiten der Harmoniebildung und der Klangfortschreitung, die bei Verwendung der zwölf Töne in Erscheinung treten, erschöpfend in einfacher Weise systematisch erfassen will.

Auf diese Weise konnte die heute weitverbreitete Anschauung entstehen, daß das Studium einer Musiktheorie mehr historischen Wert besäße, was vor allem durch die Tatsache untermauert erscheint, daß die traditionellen Musiktheorien eine bereits zu knapp gewordene Grundlage für die zeitgenössische Kompositionstätigkeit abgeben.

Die Entwicklung des Klangreihensystems bringt es mit sich, daß jene früher allgemein herrschende Ansicht wieder zu Ehren kommt, die besagt, daß man zum Komponieren eine Musiktheorie braucht.

Schließlich lehrt auch die Musikgeschichte, daß fast alle großen Komponisten die zu ihrer Zeit herrschende Musiktheorie studierten; allerdings ergaben sich bei ihrer kompositorischen Tätigkeit auch neue Probleme, und durch deren Lösung wurden neue theoretische Erkenntnisse gewonnen. So vollzog sich die Entwicklung der Musik im Wechselspiel zwischen Theorie und Praxis.

Eine der Besonderheiten der Lehre Othmar Steinbauers liegt darin, daß diese eine kaum übersehbare Fülle satztechnischer Möglichkeiten im polyphonen sowie im homophonen Sinne bietet.

Vielleicht ist für die praktische Kompositionsarbeit jene Tatsache am bedeutsamsten, daß das Klangreihensystem neue Wege für die musikalische Gestaltung eröffnet, wodurch sich auch neue Formprinzipien in der Musik ergeben.

Es ist beglückend, feststellen zu können, daß es dank des theoretischen Lebenswerkes Othmar Steinbauers nicht mehr notwendig erscheint, daß ein Komponist krampfhaft einen originellen Weg suchen muß, denn durch die Anwendung des Klangreihensystems wird die Musik von selbst anders, und doch kann dabei so komponiert werden, wie es der jeweiligen Persönlichkeit von Natur aus zukommt.

Aus all dem geht hervor, daß es nicht Sinn und Zweck der Kompositionen und der theoretischen Arbeiten Othmar Steinbauers ist, eine Revolution in der Musik auszulösen; sie wollen lediglich zeigen, auf welche Weise eine Fortentwicklung in der Musik auf einfacher und gesetzmäßiger Grundlage möglich ist.

Sie wenden sich daher an alle jene, die den Glauben an einen neuen Weg und damit Hand in Hand an eine künftige Weiterentwicklung in der Musik noch nicht verloren haben. Leider ist aber gerade dieser Glaube nur noch selten anzutreffen, und so wird es auch begreiflich, daß Othmar Steinbauer nur so wenig äußeren Erfolg erringen konnte.

Möge der Wert seines so bedeutsamen Lebenswerkes doch bald erkannt und lebendig werden, damit der heutige Kulturpessimismus zumindest auf dem Gebiete der Musik zu einem verdienten Ende geführt werde!
Fußnote 1



Erstmals erschienen in der "Heimatkundlichen Beilage zum Amtsblatt der Bezirkshauptmannschaft Lilienfeld", Jahrgang 1963, Nr. 2 (Lilienfeld, am 5. Februar 1963).

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Fußnote 2 Gemeint ist das "Panchromatische Prinzip", wie es Johann Sengstschmid später in seiner Schrift "Grundlagen der Klangreihenlehre", St. Pölten 1968, nennt.

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Die 3 Wiener Zwölftonschulen
Die 3 Wiener Zwölftonschulen in je einem Hörbeispiel
Fachbegriffe (alphabetisches Stichwortverzeichnis)

Josef Matthias Hauer
Eintrag "Josef Matthias Hauer" im Österreich-Lexikon
Behandlung Schönbergs und Hauers im Musik-Kolleg Online
Hauers Zwölftonspiel
Hörbeispiel eines Zwölftonspiels
Othmar Steinbauers Bewertung des Zwölftonspiels

Othmar Steinbauer
Hörgelegenheit des Chores "Halt an, wo läufst du hin")

Klangreihenmusik (Gesamtüberblick)
Einführung in die Klangreihenmusik
Klangreihenmusik: Musik mit neuer "Antriebskraft"
Elemente der Renaissance- und Barockmusik in der Klangreihenmusik

Besinnliche Klangreihenmusik für stille Stunden


Johann Sengstschmid

Information: Neue Wege kreativer Musikerziehung
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