Mag. Johann Sengstschmid, Prof. i. R.
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Verleih ... deinem Knecht ein hörendes Herz,
damit er ... das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht.


(Altes Testament, 1. Buch der Könige, 3, 9)
 





... damit dieses eine wohlklingende Harmonie gebe
zur Ehre Gottes und zulässiger Ergötzung des Gemüts
und soll wie aller Musik ... Finis und Endursache anders nicht,
als nur zu Gottes Ehre und Recreation des Gemüths sein.
Wo dieses nicht in acht genommen wird,
da ist's keine eigentliche Musik
sondern ein teuflisches Geplärr und Geleyer.


(J. S. Bach)
 





Die Kirche hat allezeit den Fortschritt der Künste gefördert und begünstigt.
Sie läßt zum Dienste der Religion alles zu, was der menschliche Geist
im Laufe der Jahrhunderte an Gutem und Schönem hervorgebracht hat,
freilich unter Wahrung der liturgischen Gesetze.
Deshalb findet auch die moderne Musik die Billigung der Kirche,
da auch sie Werke voll Feinheit, guten Geschmacks und Würde aufzuweisen vermag,
die der kirchlichen Handlungen keineswegs unwürdig sind.
Nun ist aber die neuere Musik in der Hauptsache
im Dienste weltlicher Zwecke entstanden.
Daher muß man hier größere Vorsicht walten lassen,
daß solche Werke, die dem modernen Stil sich anpassen,
nichts Weltliches in die Kirche einschleppen,
daß sie nicht an weltliche Motive anklingen,
noch auch in den äußeren Formen den weltlichen Gesängen nachgebildet seien.


(Hl. Papst Pius X)
 





Mit dem Glauben geht es bergab, und alles wird verdreht.
Niemand kennt sich mehr aus.
Die Oberen glauben schon gar nichts mehr, die kleinen Leut' werden irre gemacht.
In der Kirche spielen sie Tanzmusik, und der Pfarrer singt mit.
Dann tanzen sie auch noch, aber draußen wird ein Himmelszeichen stehen,
das den Anfang vom großen Unheil ankündigt.


(Sepp Wudy, Bauernknecht mit dem "zweiten Gesicht", um 1900)




Neuevangelisierung und Musik




Etwas Provokantes zum Anfang:


Damit der christliche Glaube lebendig bleibt und nicht allmählich versickert, bedarf es der sorgsamen Pflege der Kraftquellen; diese sind vor allem das unablässige Gebet sowie für den Katholiken die regelmäßige, gewissenhafte und andächtige Mitfeier der liturgischen Handlungen, insbesondere des heiligen Meßopfers.


Wer den Niedergang, ja Zusammenbruch des kirchlichen Lebens seit den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts nicht sieht oder nicht wahrhaben will und den Schwund der Gläubigen als "Gesundschrumpfungsprozeß" betrachtet, ist blind beziehungsweise lügt sich etwas vor und geht zu wenig den Ursachen nach, warum viele Menschen von den Kraftquellen abgekommen sind.


Es ist falsch, für die katholischerseits durchgeführte Liturgiereform und die daraus resultierenden leeren Kirchen das 2. Vatikanische Konzil verantwortlich zu machen, denn dieses wollte neben der Anpassung an heutige Notwendigkeiten ausdrücklich laut Artikel 4 der Liturgiekonstitution auch die Erhaltung und Förderung der jahrhundertelang bewährten überlieferten Riten, und nicht deren Behinderung und Verbot.


Vertreibend wirkten und wirken die Abschaffung liebgewonnener Liturgiedetails, der Verlust des Mystischen, des Gemüthaften, die seelische Kälte, das Menschelnde, kurzum all das Irritierende, welches man bei der von Rationalismus, zeitgeistigem Gleichschritt, Intoleranz und vordergründiger Betriebsamkeit dominierten nachkonziliaren Liturgiepraxis verspürt.


Die "rhythmischen Gesänge" (bzw. das "neue geistliche Lied"), oft von erschreckend primitiver Qualität, begleiteten und begleiten den Verfall.


Wenn Platon die Ansicht vertritt, ändere die Musik, und du erreichst den Menschen in seinem Kern, rüttelst an den Grundfesten des Staates, änderst die Gesellschaft, die öffentliche Meinung..., dann ist auch für heute viel Wahres dran.


Solange sich im kultischen Bereich die geistliche Musik entgegen den Anbiederungen an Modeströmungen weltlicher Natur nicht neu positioniert, werden - man denke an Platon - Umkehr und Neuevangelisierung ausbleiben.


Es erfordert viel Zivilcourage und Kraft, sich gegen die vom Zeitgeist geprägte öffentliche Meinung zu stellen, denn aus Angst vor Ausgrenzung pflegen sich die meisten Menschen vor ihrer Mitwelt der jeweiligen Majoritätsmeinung sogar dann anzuschließen, wenn sie in ihrem Inneren spüren und wissen, daß diese falsch ist.

Die folgenden Gedanken mögen dazu verhelfen, eine Neubesinnung einzuleiten.

Als praktizierender und betont für Neues aufgeschlossener Katholik gehöre ich weder einer traditionalistischen noch einer progressistischen kirchlichen Gruppierung an, huldige als Künstler (Komponist) dem biblischen Menschenbild und bin seit jeher brennend an Liturgiefragen interessiert.

Romano Guardini unterscheidet in seinem 1918 verfaßten Buch "Vom Geist der Liturgie", Freiburg im Breisgau, 1957, die Begriffe "Zweck" und "Sinn", um dann festzustellen: "Die Liturgie hat keinen "Zweck", kann wenigstens vom Gesichtspunkt des Zweckes allein aus nicht begriffen werden. Sie ist kein Mittel, das angewandt wird, um eine bestimmte Wirkung zu erreichen, sondern - bis zu einem gewissen Grade mindestens - Selbstzweck." ... "Genau genommen, kann die Liturgie schon deshalb keinen "Zweck" haben, weil sie ja eigentlich gar nicht um des Menschen, sondern um Gottes willen da ist. In der Liturgie sieht der Mensch nicht auf sich selbst, sondern auf Gott; auf Gott ist der Blick gerichtet. In ihr soll der Mensch nicht sich erziehen, sondern auf Gottes Herrlichkeit schauen. Der Sinn der Liturgie ist der, daß die Seele vor Gott sei, sich vor ihm ausströme, daß sie in seinem Leben, in der heiligen Welt göttlicher Wirklichkeiten, Wahrheiten, Geheimnisse und Zeichen lebe, und zwar ihr wahres, eigentliches, wirkliches Leben habe." Im Irdischen findet Guardini das Zweckfreie beim Spiel des Kindes sowie beim Schaffen des Künstlers: "Das ist Spiel: zweckfrei sich ausströmendes, von der eigenen Fülle Besitz ergreifendes Leben, sinnvoll eben in seinem reinen Dasein. Und es ist schön, wenn man es ruhig gewähren läßt, wenn kein pädagogischer Aufkläricht Absichten hineinträgt und es unnatürlich macht." ... "Sie [= die Gestalten der Kunst] haben ... keinen Zweck der Belehrung, sie wollen nicht bestimmte Wahrheiten oder bestimmte Tugenden beibringen. Nie hat ein wirklicher Künstler das beabsichtigt." ... "Der Künstler will nichts, als sein Wesen und Sehnen ausschaffen, der innern Wahrheit äußere Gestalt geben. Und der Beschauer soll vor dem Kunstwerke nichts wollen, als daß er in ihm sich aufhalte, atme, frei sich bewege, des eigenen Wesensbesten sich bewußt werde, die Erfüllung der innersten Sehnsucht ahne. Nicht aber soll er überlegen und "vernünftig" denken und Belehrung und gute Ermahnung suchen." ... "Noch Höheres leistet nun die Liturgie. In ihr wird dem Menschen Gelegenheit geboten, daß er, von der Gnade getragen, seinen eigensten Wesenssinn verwirkliche, ... In der Liturgie soll er vor Gott "sich seiner Jugend erfreuen". Das ist etwas ganz Übernatürliches, gewiß, aber eben deshalb zugleich der innersten Natur entsprechend. Und weil dies Leben höher ist als das, wozu die gewöhnliche Wirklichkeit Gelegenheit und Ausdrucksform gibt, so nimmt es sich die entsprechenden Weisen und Gestalten aus jenem Bereich, in dem es sie allein findet, nämlich aus der Kunst. Es spricht in Maß und Melodie; es bewegt sich in feierlicher, gebundener Gebärde; es kleidet sich in Farben und Gewänder, die nicht dem gewöhnlichen Leben angehören; es vollzieht sich in Räumen und Zeiten, die nach erhabeneren Gesetzen gegliedert und aufgebaut sind. Es wird im höheren Sinn ein Kindesleben, in dem alles Bild ist, Reigen und Lied. ... Vor Gott ein Spiel zu treiben, ein Werk der Kunst - nicht zu schaffen, sondern zu sein, das ist das innerste Wesen der Liturgie."


Als Komponist kann ich, wenn ich mich mit religiöser Musik beschäftige, an solch wesentlichen Gedanken nicht vorübergehen. Als ich einmal (1982) um eine Selbstcharakteristik meiner Musik gebeten wurde, verfaßte ich folgende Zeilen:
Als Leitschnur meines kompositorischen Schaffens gilt der Grundsatz Mozarts, eine gute Musik müsse sowohl den Normalhörer aus dem Volk ansprechen als auch vor den Experten bestehen können. Heute klafft ein unüberbrückbar scheinender Riß zwischen beiden: Der abgesunkene Primitivismus des einen Lagers ist für Fachleute indiskutabel, andererseits stoßen die Entwicklungen der neuen Musik beim breiten Volk auf wenig Gegenliebe. Einst hat man die jeweils zeitgenössische Musik gepflegt; nur wer heute Musik erleben will, wendet sich ersatzweise der traditionellen Musik zu, denn seinerzeit hat man gewußt, wie man die Akkordwelt ohrenfreundlich meistert. Eigentlich gab es nur ein Prinzip, das Siebenton-Gesetz: Auf den Tönen der siebenstufigen Tonleiter (Dur, Moll, Kirchentonarten) wurden durch übereinandergeschichtete Terzen leitereigene Dreiklänge, Vierklänge etc. errichtet. Ohne dieses Gesetz, das freilich einmal entdeckt werden mußte, hätten die Regeln des Kontrapunkts und der Harmonielehre keine Verankerung. Es ist eine nicht rückgängig zu machende historische Tatsache, daß sich die Siebentönigkeit zur Zwölftönigkeit weiterentwickelt hat. In diesem neuen Bereich gibt es aber keine leitereigenen Dreiklänge etc., funktioniert also das Siebenton-Gesetz nicht mehr. Während sich viele Komponisten zur Emanzipation der harten Dissonanz sowie des Gerräuschs bekennen, womit sie dem breiten Publikum wenig Freude bereiten, ist Josef Matthias Hauer (1883 - 1959) die entscheidende Entdeckung eines ohrenfreundlichen zwölftönigen Harmonie-Prinzips gelungen; sein Schüler Othmar Steinbauer (1895 - 1962) baute darauf ein Regelsystem auf und schuf so in der Klangreihenlehre eine Satzlehre im Rang von Kontrapunkt und Harmonielehre. Sie bildet die Basis für mein kompositorisches Schaffen, wobei auch ich durch eigene Entdeckungen an der Weiterentwicklung beitrug. Wenn man mich einordnen wollte, könnte man sagen: In Fortsetzung des von meinem Lehrer Steinbauer eingeschlagenen Weges komponiere ich zwölftönige Klangreihenmusik, von der ich hoffe, daß sie dem Mozartschen Grundsatz huldigt. Inwieweit das gelungen ist, darüber mögen andere befinden.

Wer sich ein Bild über mich machen will, besuche meine Homepage und verschaffe sich, was mir noch wesentlicher erscheint, einen ersten Höreindruck .

Aus diesen Unterlagen ist eine gewisse konservative Grundhaltung herauszulesen. Schon der französische Denker Joseph Joubert wußte zu formulieren: "Wer für die Zukunft sorgen will, muß die Vergangenheit mit Ehrfurcht und die Gegenwart mit Mißtrauen aufnehmen", und auch Hans Sedlmayr sah im wahren konservativen Prinzip die dauernde Erneuerung des Alten, also genau dessen, was am Früheren erhaltenswert und erneuerungsfähig, was nicht der Vergänglichkeit ausgeliefert, sondern beständig, weil zeitfrei ist; dieses Prinzip hat wohl Gültigkeit für alles geistige Leben, somit auch für die liturgische Grundhaltung.

Versuche, die Vergangenheit in ihrem Brauchtum, mit ihren alten Zeichen und Bildern sowie mit ihrer Kunst uneingeschränkt aufrechterhalten oder wiedererwecken zu wollen, sind zwar lobenswert, aber ebensowenig vorrangig wie alles gewiß auch notwendige Museale oder wie die Mode, antiquierte Musik wiederbeleben zu wollen.

"Alte Musik" entspricht zwar scheinbar ob ihrer Spontaneität und Ursprünglichkeit einem Bedürfnis des heutigen - auch des jungen - Menschen mit seiner Sehnsucht nach Ruhe und Harmonie, nach etwas in sich Geschlossenem, Sicherem und Souveränem, nach Zugänglichkeit. Weil ein Verlangen nach einer Musik existiert, die etwas zum Anhalten besitzt, etwas, das in sich ruht, als richtig und schön empfunden wird, und weil die Musik im 20./21. Jahrhundert scheinbar so etwas nicht bietet, greifen Musikanbieter auf die "Alte Musik" zurück, doch genau das ist eine Ersatzhandlung, ein intuitives Suchen und Finden einer Ersatzbefriedigung.

Was das Merkmal Schönheit "zwischen gestern und morgen" betrifft, finden sich dazu richtungweisende Aussagen von Papst Benedikt XVI., die er in einer Pressekonferenz auf dem Flug nach Spanien (6.11.2010) zur Weihe der Kirche "Sagrada Familia" gemacht hat. Er wurde auf Gaudi und seinen Sakralbau in Barcelona angesprochen; auf die Fragen, wie der Glaube heute seinen Platz in der Welt der Kunst und Kultur wiederfinden könne und ob das ein wichtiges Thema seines Pontifikats sei, antwortete der Papst:
 


... Sie wissen, daß ich immer wieder zum Thema der Beziehung zwischen Glaube und Vernunft zurückkehre, daß der Glaube, der christliche Glaube seine Identität nur findet in der Öffnung zur Vernunft, und daß die Vernunft nur sie selbst wird, wenn sie sich auf den Glauben hin übersteigt. Aber genau so wichtig ist die Beziehung zwischen Glauben und Kunst, weil die Wahrheit, das Ziel der Vernunft, sich in der Schönheit ausdrückt und in der Schönheit sie selbst wird, sich als Wahrheit erweist. Also muß dort, wo die Wahrheit ist, die Schönheit entstehen, wo der Mensch sich in richtiger, guter Weise verwirklicht, drückt er sich in Schönheit aus. Die Beziehung zwischen Wahrheit und Schönheit ist unauflöslich, und deshalb brauchen wir die Schönheit. Von Anfang an, auch in der großen Einfachheit und Armut der Verfolgungszeit, waren in der Kirche die Kunst, die Malerei, der Ausdruck der Rettung durch Gott in den Bildern der Welt, der Gesang, und dann auch das Gebäude grundlegend. All das ist grundlegend für die Kirche und wird es immer bleiben. So war die Kirche jahrhundertelang die Mutter der Künste: der große Schatz der westlichen Kunst - sowohl die Musik wie auch die Architektur und Malerei - ist innerhalb der Kirche aus dem Glauben heraus entstanden. Heute gibt es eine gewisse "Meinungsverschiedenheit", das aber schadet sowohl der Kunst als auch dem Glauben: Die Kunst, die die Wurzel der Transzendenz verlöre, würde nicht mehr auf Gott zugehen, sie wäre verkürzt, sie würde die lebendige Wurzel verlieren. Und ein Glaube, der nur in der Vergangenheit Kunst hervorgebracht hätte, wäre kein Glaube in der Gegenwart mehr; heute muß er erneut als Wahrheit ausgedrückt werden, die immer präsent ist. Deshalb ist der Dialog oder die Begegnung, ich würde beides sagen, zwischen Kunst und Glaube in das tiefste Wesen des Glaubens eingeschrieben. Wir müssen alles tun, damit auch heute der Glaube in echter Kunst Ausdruck findet, wie bei Gaudi in der Kontinuität und der Neuheit. Und die Kunst darf den Kontakt zum Glauben nicht verlieren.


Für die Kunstsparte "Musik" läßt sich feststellen: Auch in unserer Epoche gibt es eine Musik, welche in zwölftöniger Sprache all die oben Angesprochenen Bedürfnisse zu befriedigen vermag, nur müßte man sie einmal in all ihren Qualitäten entdecken.

Zwölftönigkeit - in rechter Weise eingesetzt - muß dem vertrauten Schönheitsideal nicht zuwiderlaufen. Wer sich um 7.000 Währungseinheiten etwas Schönes kaufen kann, der bleibt in der Lage, auch um 12.000 noch etwas Schönes zu erhalten; warum soll das in der Musik anders sein? Nach welcher Logik vermag nur Siebentönigkeit eine harmonische Musik zu ermöglichen, während das um fünf Töne reichere Tonmaterial zum Gegenteil führt? Es kommt eben auf die rechte Handhabung an.

Eigentlich ergäbe sich hier ein praktischer pastoraler Handlungsbedarf, geboren aus richtig verstandener konservativer Gesinnung, denn es sollte nicht so sehr um die schwerpunktmäßige Aufrechterhaltung oder Wiederbelebung des Historischen gehen, sondern vordringlich um die Suche nach dem dem Zeitlosen nicht prinzipiell widersprechenden Neuen sowie um dessen Einsatz dafür; schließlich ist das zur Veränderung aller Lebensbereiche im positiven Sinne unerläßlich. Für die Kirchenmusik mögen als Beurteilungsmaßstab die Richtsätze des heiligen Papstes Pius X. weiterhin herangezogen werden (siehe auch mein Vorwort zur MISSA "ADORAMUS TE").
In das gleiche Horn stößt die Gesellschaft "Sinfonia sacra e. V.", in deren Zielsetzung es heißt: "Bewahrung und Pflege der Kirchenmusik, speziell der liturgischen Musik, im Sinne der kirchlichen Tradition und die Weiterentwicklung dieser Musik allein auf Grundlage dieser Tradition."

Es ist allerorts deutlich zu verspüren, wie sich in den letzten Jahrzehnten zwische
n den politischen, religiösen, kulturellen u.a. Lagern schleichend vieles polarisiert hatte, wo zahlreiche Brücken des Einverständnisses und der Toleranz einstürzten, wo zwischen den Lagern Lieblosigkeiten, Gehässigkeiten und Ausgrenzungen wie ein Geschwür aufbrachen, wo dem Trennenden gegenüber dem Verbindenden der Vorrang eingeräumt wurde und wo das Glaubensleben darob, wen wundert das, auf der Strecke blieb, wie ein Blick auf die rückläufige Gottesdienstteilnahme und auf das hilflose sowie gewiß nicht beabsichtigte, und dennoch oft unwürdige Benehmen von Kirchenbesuchern beweist. Dazu passen die Predigtworte des österreichischen Militärbischofes Christian Werner vom 15.9.2001: "Wir haben viele Pastoralexperten, aber keine Heiligen, wir haben viele Medienexperten, aber kaum noch Propheten, wir haben viele Theologen, aber zuwenig Priester, viel Engagement und finanzielle Opfer, aber wenig Gehorsam, viel Kritik, aber wenig Begeisterung."

Ein nicht unwesentlicher Anteil am Niedergang des religiösen Lebens kommt jener Musik zu, deren Pflege "in die Glieder" geht und die man als "rhythmische Gesänge", "neues geistliches Lied", "jugendgerechtes Liedgut" etc. zu bezeichnen pflegt. Um die Gründe für eine solche Feststellung darzulegen, gilt es, weiter auszuholen und in der Geschichte etwas nachzublättern:

Bald nach der Entdeckung Amerikas entwickelte sich ein schwungvoller Sklavenhandel zwischen den Kontinenten. Unzählige Schwarzafrikaner wurden auf Sklavenschiffen unter unmenschlichen Bedingungen in die Neue Welt gebracht, wobei ein großer Prozentsatz die Überfahrt nicht überlebte. Sie verkaufte man dann an weiße Besitzer als Sklaven ("Diener auf Lebenszeit"). Gewissensbedenken hatte man kaum, denn sie wurden ja zum Christentum bekehrt. Die Sklaven waren rechtlos, hatten für immer auf ihren Plantagen zu bleiben und durften diese nur mit einem Paß des Besitzers verlassen. Versammlungen, schon von mehr als 5 Personen, der Handel sowie mancherorts das Trommeln und Musizieren waren verboten, und selbst geringfügige Vergehen wurden drakonisch bestraft.

Die christliche Missionsarbeit trugen hauptsächlich die Baptisten und Methodisten. Für die Schwarzen war ihre Gebetsstätte nicht nur ein Gottesdienst- und Versammlungsraum, sondern auch ein soziales Zentrum, wo die einzige Möglichkeit bestand, sich ohne Beobachtung durch Weiße mit den Mitsklaven auszusprechen, das schreckliche Los zu beklagen und ihrer Wut und Verzweiflung Ausdruck zu verleihen. Bei der Gottesdienstgestaltung flossen afrikanisch-heidnisches Erbe und abendländisch-
Christliches
zusammen.

Bei den meisten afrikanischen Stämmen wird ihr Schicksal nach dortiger Vorstellung von zahlreichen Göttern und Dämonen, von guten und bösen Geistern sowie von den Ahnen bestimmt. Die Kulthandlung soll die Verbindung mit diesen Mächten herstellen, ihre guten Einflüsse herabrufen und ihre schädlichen Eingriffe fernhalten. Solche Beschwörungen vollziehen sich in kollektiver Ekstase, die durch intensive hypnotisierende Trommelrhythmen sowie durch stundenlanges formelhaftes Singen und Tanzen erzeugt wird und nicht selten zu fetischistischer Besessenheit führt. In solchem Außersichsein wird der Mensch von den "göttlichen" Kräften ergriffen; zudem geht dies oft in profane Tänze samt erotischer Erregung, lüsternen Bewegungen und afrikanischer Wildheit über.

Die afrikanisch-kultische Musik wird vom Rhythmus beherrscht, es gibt viele Schlaginstrumente, und die wenigen Melodieinstrumente werden schlagzeugartig gebraucht. Die Voraussetzung bildet der "beat", ein regelmäßiger Ablauf gleich fester Schläge, häufig unterstützt durch Stampfen mit den Füßen. Zwischen den Schlägen des Grundrhythmus kommt es zu Offbeat-Akzenten, welche oft wie die Vorwegnahme von später erwarteten Betonungen wirken. Im Spannungszustand von Beat und Offbeat wird ein körperliches Bedürfnis nach rhythmischen Ausgleichsbewegungen ausgelöst, etwa ein Mitstampfen mit den Füßen, ein Hin- und Herbewegen des Körpers, ein rhythmisches Mitgehen bis in die Fingerspitzen u.a. Damit ist aber nicht gesagt, daß aus der schwarzafrikanischen Musiktradition nicht auch eine würdige nicht-ekstatische Musik entstehen kann, wie etwa die "Missa luba", die "Missa shona" u.a.

Auf amerikanischem Boden kam es zu zahlreichen Verquickungen von afrikanischem Heidentum und europäisch-amerikanischem Christentum, wobei die Schwarzen das Heidnische oft tarnten, indem sie ihre Götter mit biblischen Gestalten verschmolzen und Christliches in das afrikanische Erbe einbezogen. Selbst die Spirituals erwuchsen nicht primär aus den Herzen und Kehlen der farbigen Sklaven. Vielmehr entstanden sie in einem vielschichtigen Begegnungs-, Verschmelzungs- und Umwandlungsvorgang aus dem Hymnen- und Psalmensingen der Weißen und aus der Musikauffassung der Schwarzen. Es wurde dabei europäisches Liedmaterial "afrikanisiert", also dem besonderen schwarzen Musikempfinden entsprechend umgeformt. Hymnen rhythmisierte man entsprechend der Offbeat-Phrasierung, die formale Gestaltung (symmetrischer Strophenbau, periodische Gliederung) wurde in das Responsorialschema (Ruf-Antwort-Prinzip) umgeformt u.a.m. In der Bildsprache der Spiritualtexte ging es nicht so sehr um christliche Erlösungshoffnung, sondern um die reale eigene Erlösung und Befreiung, und sie äußerte sich in zahlreichen Beispielen und Symbolen für den Erlösungskampf: Noah, der die Seinen aus der Sintflut rettete; die Beendigung der ägyptischen Gefangenschaft und des babylonischen Exils; Josua, der die Schlacht bei Jericho schlug; David, der den Riesen bezwang; Moses, der sein Volk aus der Sklaverei des Pharao herausführte u.a.

Wohl kam es 1865 zum Ende der Sklaverei, doch die farbige Bevölkerung lebte bald in einem noch größeren Elend als in der Sklaverei.

Allmählich entwickelten sich aus den Spiritualgesängen als weltliches Gegenstück der Blues sowie der instrumentale Jazz des beginnenden 20. Jahrhunderts, aber auch die kirchlichen Gospelsongs mit ihren schwingenden, wippenden Körperbewegungen.

Vor allem im aus dem Zusammentreffen der afrikanischen Kultur mit der europäisch-amerikanischen Kultur in New Orleans, Chicago und Harlem (New York) entstandenen Jazz lebt das schwarze Lebensgefühl mit seinem afrikanischen Erbe weiter. Für den in einer solchen Situation abrollenden Entwicklungsprozeß von Kulturübertragung und Kulturwandel hat sich die Bezeichnung Akkulturation eingebürgert, wobei die dominant gebliebene afrikanische Komponente untrennbar mit Erregung und Ekstase, mit Bewegung und Beschwörung verbunden ist.

Wesentliches Merkmal der Jazzrhythmik ist ihr starker motorischer Reiz, wobei die Reizintensität durch das Mikrophon noch verstärkt wird. Jazzmusik ohne die deutlich spürbare Herausforderung an den Körper, sich zu bewegen, ist undenkbar. Was einst kultisch-magische Erregung war, wird in profaner Benutzung im Zusammentreffen mit der weißen Zivilisation etwas Neues, nämlich ein extremer hedonistischer Lustgewinn. Das vital-unkonventionelle, nonkonformistische, aufschreiende, revolutionär-freche Lebensgefühl mit seiner Spontaneität, Improvisation, Innovation, mit seinen emotionalen Stimulanzien und seiner Protesthaltung wird zum Leitbild zuerst des modernen, freien Amerika, das sich - transportiert durch den Jazz - bald weltweit verbreiten sollte und in unsere heutige hedonistische "Fun-Gesellschaft" überging.

Nach dem 1. Weltkrieg begegnete der junge Carl Orff den neue Rhythmusformen aus Jazz und Folklore und verarbeitete sie in seinen Werken. 1924 gründete er in München gemeinsam mit Dorothee Günther die sogenannte "Güntherschule", die in den Bereichen Gymnastik, Rhythmik, Musik und Tanz ausbildete. Er selbst übernahm die Leitung der Musikabteilung. Grundlage seiner Arbeit bildete die Idee, das musikalisch-rhythmische Gefühl aus der Bewegung heraus zu entwickeln, und daraus entwickelte er gemeinsam mit Gunild Keetman ein neues Modell für Musik- und Bewegungserziehung: das "Orff-Schulwerk". Für dieses entwickelte er eigens ein Instrumentarium, welches hauptsächlich aus Rhythmusinstrumenten besteht. Dabei ließ er sich nicht nur von der afrikanischen Musikkultur anregen, sondern vor allem die Instrumente des altindonesischen Gamelan hatten es ihm angetan.

Die rhythmische Welt des Spirituals und des Orff-Schulwerkes beeinflußte das heutzutage bei uns propagierte, in künstlerischer Qualität gar nicht hoch einzustufende "Neue geistliche Lied", wobei Gitarre und Keybord nicht im Stil der klassischen Spielweisen, sondern wie akkordische Schlaginstrumente eingesetzt werden. Im übrigen erscheint es unverantwortlich, wenn man Schüler ein "kindgerechtes" Liedgut musikalisch und auch textlich niedrigen Niveaus lehrt, das nach einigen Jahren unmodern wird und dem sie mit der Zeit entwachsen, während ihnen die würdigen Gesänge des allgemeinen Kirchenvolkes (wie etwa: "Großer Gott, wir loben dich", "Ehre sei Gott in der Höhe" oder "Heilig, heilig" aus der Schubert-Messe, "Jesus, dir leb ich", "Segne du, Maria", "Ich will dich lieben, meine Stärke", "Herr, ich bin dein Eigentum" u.v.a.m.) - wie die Erfahrung leider lehrt - unbekannt bleiben, weil die Zeit mit Kurzlebigem vergeudet wird.

Eine innere Voraussetzung für die gläubige Begegnung mit Gott liefert uns das 1. Buch der Könige, wo über Elija am Berg Horeb berichtet wird (Kap. 19, 11-13). Dort steht zu lesen: "... Da zog der Herr vorüber: Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriß und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln. Als Elija es hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel, trat heraus und stellte sich an den Eingang der Höhle. Da vernahm er eine Stimme, die ihm zurief ...".

Auf die Musik übertragen läßt sich daraus schließen:

Nicht in rhythmischer Vitalität mit körperlicher Bewegungsherausforderung findet die Gottesbegegnung statt, sondern in einem Musikstil, von dem es etwa in der 3. Durchführungsinstruktion (1970) heißt: "... Obwohl die Kirche bei den liturgischen Handlungen keine Art von sakraler Musik ausschließt, so ist jedoch nicht jede Art von Musik, Gesang oder Instrumenten in gleicher Weise geeignet, den Gebetsgeist zu fördern ... Um die Frömmigkeit zu fördern und zu viel Lärm zu vermeiden, mögen die Musikinstrumente sorgfältig ausgewählt werden ...", wobei dieser Text dem inneren Sinn nach auf den heiligen Papst PIUS X. zurückgreift, der 1903 in seinem Motu proprio "Inter pastoralis officii", dessen Inhalte die Liturgiekonstitution des 2. Vatikanischen Konzils bekräftigte, das Folgende formulierte: "Die Kirchenmusik muß also die besonderen Eigenschaften der Liturgie besitzen, vor allem die Heiligkeit und Güte der Form; daraus erwächst von selbst ein weiteres Merkmal, die Allgemeinheit. Die Kirchenmusik muß heilig sein; daher muß alles Weltliche nicht allein von ihr selbst, sondern auch vor der Art ihres Vortrages ferngehalten werden. Sie muß ferner den Charakter wahrer Kunst besitzen, sonst vermag sie nicht jenen Einfluß auf die Zuhörer auszuüben, den sich die Kirche verspricht, wenn sie die Tonkunst in die Liturgie aufnimmt. Sie soll auch allgemein sein, d.h. die einzelnen Völker dürfen wohl in den kirchlichen Weisen gewisse Formen anwenden, die gleichsam die Eigentümlichkeiten ihrer Musik bilden; diese Formen müssen aber dem allgemeinen Charakter der Kirchenmusik derart untergeordnet sein, daß kein Angehöriger eines anderen Volkes beim Anhören derselben einen unangenehmen Eindruck empfängt."

Es kommt also auf ein der Zucht unterworfenes und für alle - wirklich für alle, ob Kind oder Greis, ob In- oder Ausländer, ob Weißer, Gelber, Roter oder Schwarzer - also auf ein für alle nicht anstößiges, würdiges Musizieren an, so wie die dem Gebetsgeist zugeordnete Körperhaltung ein geduldiges Verharren, ein gemessenes Schreiten, Stehen, Sitzen und Niederknien und nicht pulsierende Bewegungen beinhaltet. Ein Bedürfnis nach Innerlichkeit kennt kein ekstatisch erregtes Beschwören der Gottheit, wie es sich uns in afrikanischen Kulturen darbietet, und meidet alles Laute, Grelle, Sensationelle, das gesteigerte Reizbedürfnis, das den Leib Erregende u.a.m.

Wer voll Andacht das Gebet, das Gespräch mit Gott, sucht, benötigt innere Sammlung, und diese wird gestört, wenn die Beine, die Arme, der Kopf, ja der ganze Körper unwillkürlich zum rhythmischen Mitwippen herausgefordert werden und deren Unterlassung einen Willensakt erfordert. Daher sei man kritisch gegenüber einem Kirchenmusikstil, der nicht aus dem Fortführungsprozeß des organischen Werdens und Reifens des durch die Jahrhunderte hin Lebendigen (nach Kardinal Joseph Ratzinger) resultiert
, sondern der seine Wurzeln im Spiritual, im Jazz, sowie in der Orff-Nachfolge hat. Zudem steht man durchaus auf dem Boden des 2. Vatikanischen Konzils, denn in dessen Liturgiekonstitution heißt es im Artikel 23: "Schließlich sollen keine Neuerungen eingeführt werden, es sei denn, ein wirklicher und sicher zu erhoffender Nutzen der Kirche verlange es. Dabei ist Sorge zu tragen, daß die neuen Formen aus den schon bestehenden gewissermaßen organisch herauswachsen."

Wird also im Gottesdienst ein Kirchenmusikstil, der, wie oben beschrieben, seine Wurzeln im Spiritual, im Jazz, sowie in der Orff-Nachfolge hat, zu Gehör gebracht, vertreibt er häufig jene, die sowohl die Kontinuität des von Kindheit an gepflegten Glaubenslebens als auch eine Atmosphäre der Andacht suchen, und Suchende sind nicht nur "die Alten", sondern das sollten alle sein, vom Kind bis zum Greis.

Wenn im privaten Kreis auf derartige deprimierende Gegebenheiten und auf das zugrundeliegende Menschenbild die Sprache kommt, dauert es nicht lange, bis als fatalistische Beschönigung der "ZEITGEIST" beschworen wird, mit dem man sich eben abfinden müsse; doch als Künstler, dem auch der christliche Glaube ein Herzensanliegen ist, will ich das nicht tatenlos gelten lassen.

Leider pflegt man in der Kirche - im Unterschied zu den linkslastigen politischen oder religiösen Gruppierungen - die Kräfte der Kultur im allgemeinen und die der Kunst im besonderen in ihrer Wirkungsweise fahrlässig zu unterschätzen, doch gerade die Beschaffenheit der künstlerischen Substanz ist es, die zur Prägung des Zeitgeistes mit beiträgt, und dieser Zeitgeist gebiert wieder eine Lebenshaltung, aus der eine von viel Irrationalität getragene kulturelle und religiöse Gleichgültigkeit resultiert.

Da die heutige Kultur einerseits von oberflächlichen hedonistischen Zielen ("Fun-Gesellschaft") und andererseits von der alt gewordenen 68er-Generation, welche ihr Denken aus der kritisch-marxistischen Frankfurter Philosophenschule herleitet, bestimmt wird, entsteht ein dementsprechend inhumanes, abstoßendes Lebensumfeld, in dem sich der MENSCH nicht mehr als EBENBILD GOTTES mit allen Konsequenzen sieht und in dem die platonischen WERTE DES WAHREN, GUTEN UND SCHÖNEN als nicht mehr zeitgemäß gelten - jene Werte also, für welche sich im 20. Jahrhundert nicht nur die pastorale Konstitution des 2. Vatikanischen Konzils "Gaudium et spes" (1965) in seinem "2. Kapitel: Die richtige Förderung des kulturellen Fortschritts" (Art. 57: "Glaube und Kultur") ausspricht, sondern auch Papst Johannes Paul II. in seinem Brief an die Künstler (4. April, Ostersonntag 1999), in dem er auf die Berufung des Künstlers im Dienst an der Schönheit, auf die Beziehung zwischen gut und schön u.v.a.m. eingeht.

Es ist ja nicht belanglos, welches Menschenbild das allgemeine Bewußtsein bestimmt. Mit den beiden Stellen aus der Genesis ("Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde; nach dem Bilde Gottes schuf er ihn.") und aus dem 1. Paulusbrief an die Korinther ("Wißt ihr nicht, daß ihr ein Tempel Gottes seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wenn einer den Tempel Gottes zugrunderichtet, so wird Gott ihn zugrunderichten. Denn der Tempel Gottes ist heilig, und der seid ihr."), ergänzt durch die Worte aus Joseph Ratzingers - Papst Benedikts XVI. "Jesus von Nazareth" über das Wesen des "Himmels" ("Wo Gottes Wille geschieht, ist Himmel. Das Wesen des Himmels ist das Einssein mit Gottes Willen, das Einssein von Willen und Wahrheit. Erde wird >Himmel<, wenn und soweit Gottes Wille in ihr geschieht, und sie ist bloß >Erde<, Gegenpol zum Himmel, wenn und soweit sie sich dem Willen Gottes entzieht. Deswegen bitten wir darum, daß es auf Erden werde wie im Himmel, daß Erde >Himmel< werde.") läßt sich das BIBLISCHE MENSCHENBILD beziehungsweise WELTBILD umreißen.

Das dem entgegengesetzte EXPRESSIONISTISCHE MENSCHENBILD ist in einem Gedichtanfang von Klabund treffend mit den Worten umrissen: "Es hat ein Gott mich ausgekotzt, Nun lieg ich da, ein Haufen Dreck...". Seine künstlerische Umsetzung erfolgt durch Gestaltung von Scheußlichkeiten, Provozierendem, Blasphemischem und Obszönem, religiöse und moralische Werte sowie das Ethische oder Ästhetische werden herabgezerrt, dem Kritiker von solch menschenverachtenden Produkten wird ein Mangel an Kunstverständnis unterstellt u.v.a.m.

Die MUSIK - und für diese Sparte will ich nun sprechen - IST NICHT WERTNEUTRAL und besitzt eine solche Macht, daß sogar Körperfunktionen, wie medizinisch nachgewiesen wurde, positiv oder negativ beeinflußt werden können. So etwa zeigen Hirnuntersuchungen, daß konsonante Harmonien bevorzugt im Hörzentrum verarbeitet werden, und zwar in Regionen, die auch aktiv beim Sprechen und Singen mitwirken; dagegen werden bei Disharmonien andere Hirnregionen stärker aktiviert, beispielsweise die Amygdala, also jene Region, die auch für Entstehung der Angst und die emotionale Bewertung von Situationen sowie der Analyse möglicher Gefahren zuständig ist. Speziell in der Filmmusik wissen deren Komponisten diese oder jene Stilmittel gezielt einzusetzen. Allgemein gesagt: es kommt in der Musik mit ihrer atmosphärebildenden Kraft darauf an, welche Art von Rhythmik, Harmonik, Melodik und Gestaltung dem jeweiligen
Menschen- und Weltbild entspricht. Das gilt für die geistliche Musik ebenso wie für die profane, welche nicht deren Gegenpol sein sollte.

Tonalität und Siebentönigkeit würden sowohl ein konsonantes als auch ein dissonantes Klangbild gleichermaßen zulassen, aber die tonal-siebentönigen Satzlehren des Kontrapunkts und der Harmonielehre, auf deren Basis unsere größten Meister ihre Kompositionstechnik entwickelt haben, regeln das Zustandekommen eines konsonanten Klangbildes. Analoges hätte für die Atonalität und Zwölftönigkeit zu gelten: auch hier müßte neben dem dissonanten ein konsonantes Klangbild grundsätzlich möglich sein.

Es kann doch niemals in der bloßen Erweiterung des musikalischen Materials von der tonartgebundenen Siebentönigkeit zur Zwölftönigkeit begründet sein, daß gemäß der Parole "Emanzipation der (harten) Dissonanz" dem übelklingenden Getön jener Platz eingeräumt wird, den bei der traditionellen tonalen Gestaltung der "Wohlklang" innehatte; wenn dies aber dennoch geschieht, dann zeigt das nur, daß mit den zwölf Tönen nicht mit jener analogen klanglichen Einstellung bzw. Sorgfalt verfahren wird wie früher mit den sieben Tönen, und zwar entweder deshalb nicht, weil man auf Grund diverser - meist außermusikalischer - Ziele das Schrille, das Geräuschähnliche, das Bizarre, das Extravagante, das Hysterische, das ins Unterbewußtsein Verdrängte, das Triebhafte, das Schockierende, das Angst und Entsetzen Erregende, das Drohende, das Katastrophale, das Chaotische, das Häßliche, das Fratzenhafte, das Verzerrte, das Diabolische u.ä. zur Gestaltung bringen wollte, oder weil man mangels einer echten sowie brauchbaren zwölftönigen Satzlehre den harmonischen Bereich zu wenig oder gar nicht zu bewältigen vermochte. Im übrigen sei nicht übersehen, daß sich auch mit nur sieben Tönen übelklingende Effekte - wenn auch nicht so extreme wie mit zwölf Tönen - erzeugen ließen.

Welche Art von Klangbild - ein vorwiegend konsonantes oder ein dissonantes - in der Musik gewollt wird, hängt von den Intentionen des Künstlers und auch von der Erwartungshaltung des Publikums ab. Warum gestaltete etwa Joseph Haydn den Beginn seiner "Schöpfung" (Darstellung des Chaos) nicht drastischer? Er hätte gewiß auch anders gekonnt, doch es galt eine Einstellung, aus der etwa W. A. Mozart Worte fand wie: "Die Leidenschaften, heftig oder nicht, müssen niemals bis zum Ekel ausgedrückt sein, und die Musik auch in der schaudervollsten Lage niemals das Ohr beleidigen, sondern doch dabei vergnüglich, folglich allzeit Musik bleiben."

Der Expressionist Arnold Schönberg dagegen proklamierte die Emanzipation der Dissonanz und meinte damit die EMANZIPATION DER HARTEN DISSONANZ: Während früher eine Dissonanz als Fremdkörper in einem konsonanten Umfeld vorzubereiten und aufzulösen war, ist nun - in Umkehrung der Werte - in einem dissonanten Umfeld eine Konsonanz (wie der Dreiklang) als Fremdkörper vorzubereiten und aufzulösen. Die Dissonanz wird zum SPIEGELBILD DES KLABUNDSCHEN MENSCHENBILDES.

Es ist ein "Verdienst" Schönbergs und seiner Schule (1. Wiener Zwölftonschule), in Atonalität und Zwölftönigkeit die Dissonanz hineingetragen und so nachhaltig verankert zu haben, daß nach allgemeiner Meinung das Klangbild der atonalen bzw. zwölftönigen Musik dissonant ist. Das kommt einer Diskriminierung der Zwölftonidee gleich, denn viele haben es aufgegeben, im Zeitgenössischen eine wohlklingende Harmonie zu erwarten.

Zwölftönig konzipiert sind schließlich auch das völlig anders - nämlich harmonisch - klingende ZWÖLFTONSPIEL sowie die KLANGREIHENMUSIK, beide in Wien entstanden (2. und 3. Wiener Zwölftonschule). Indem ihre getrübt-konsonante bzw. mild-dissonante Akkordwelt, wie man sie bereits in der spätromantischen Tristan-Harmonik Wagners, in der impressionistischen Klangwelt, in den Jazz- und Unterhaltungsmusikakkorden des 20. Jahrhunderts u.a.m. wiederfindet, auch vor Laienohren zu bestehen vermag (dafür einige Belege), ist sie es, mit deren Hilfe sich die Werte der traditionellen Musik aufgreifen und mit neuen Mitteln ausfüllen lassen. Zum Beweis höre man in Beispiele hinein, welche über die Internetseite Werkeinspielungen im Internet zu finden sind, oder klicke folgende Auswahl an:
 
Zwölftonspiel für Streichquartett (30.1.1957)
  1. Satz aus den
"Sieben kleinen Klavierstücken in Spiegelform",
  Chor "Halt an, wo läufst du hin",
  Graduale aus dem "Duo liturgico",
  5. Satz aus den
"Sechs Tricinien für das Orgelpositiv"
,
  9. Satz aus der "Rosette zu drei Stimmen",
  3. Satz aus der
"Sonate Nr. 1 für Violine und Klavier
",
  3. Satz aus der
"Kleinen Festmusik für Bläser"
,
Johann Sengstschmid: Gebet (P. Rupert Mayer) für Gesang und Klavier.


Damit ist die GESTALTUNG EINER NEUEN MUSIK im Sinne des biblisch+platonischen Menschenbildes von der Harmonik her möglich geworden. Von Wien ausgehend eroberte die Dissonanz die Welt (Schönberg-Schule), und aus Wien könnte
zukunftsorientiert, also ohne Rückgriff auf die Vergangenheit, deren Überwindung und Heilung kommen (Klangreihenmusik, siehe auch Hinweis).

Vom zitierten Paulus-Wort ("Wißt ihr nicht, daß ihr ein Tempel Gottes seid und der Geist Gottes in euch wohnt...") ausgehend ist wohl anzunehmen, daß in jedem Kunstschaffenden und in jedem Kunstannehmenden der Geist Gottes wohnt, ob er das bejahend akzeptiert, mit Lauheit und Gleichgültigkeit übergeht oder sich verneinend entgegenstellt. Es kommt gerade heute darauf an, ob sich einerseits ein Künstler dessen bewußt und bereit ist, "seine Feder vom Geist Gottes führen zu lassen", und welchen Stellenwert andererseits die zu bejahenden oder verneinenden Werke im Kunstannehmenden besitzen oder besitzen sollten. Die Weise der künstlerischen Substanz ist es, die zur Prägung des Zeitgeistes mit beiträgt, und die Art des Zeitgeistes fördert oder behindert das religiöse Leben, die Kirchenbesuche, die Priesterberufungen, die toleranten oder intoleranten, ja lieblosen Verhaltungsformen bei kirchlichen Auseinandersetzungen, die Vernachlässigung bzw. den Überkonsum von Sakramenten (Rückgang der Beichten, Kommunion-Schwemme) und das Fehlverhalten von Priestern in solchen Fragen etc. etc.

Der KUNST, einerlei, um welche Sparte es sich handelt, kommt im Dienste einer kulturellen Neubesinnung sowie der Neuevangelisierung ("Himmel auf Erden") eine bedeutende Rolle zu, da sie nicht nur auf das Gemüt einwirkt und so ein verinnerlicht-religiöses Umfeld nährt oder vergiftet, sondern sogar die Gehirnstruktur des Menschen vor und in der ersten Zeit nach der Geburt irreversibel vernetzt (siehe meine Gedanken über eine religiöse Vorprogrammierung im Säuglingsalter).

Wenn man die der Kunst innewohnenden unterstützenden oder störenden Kräfte aus lauter Relativitätsdenken zu wenig bedenkt und die Geister zu wenig zu scheiden weiß, dann wird es mit dem christlich-biblischen Missionsauftrag auch weiterhin düster ausschauen und das religiöse Leben noch mehr absinken. Daher ist zu prüfen, wes Geistes die Kunst sein sollte, und es gilt, tatkräftig jene Künstler zu ermuntern, die uneitel von einem gläubigen, missionarischen Drang erfüllt sind. Leider stößt man mit solchen Gedanken bei kirchenamtlich Tätigen, die eigentlich im Dienste einer Verinnerlichung stehen sollten, größtenteils auf Unverständnis und Ablehnung.

Wem eine christlich geprägte Zukunft am Herzen liegt, dürfte seine Förderung nur mit größtem Vorbehalt einem Kunstschaffenden zuwenden, der ein bloßer kritischer, anklagender Seismograph gegenwärtiger Übelstände sein will; vielmehr sollte er seine Gunst einem solchen Künstler widmen, dem die Gabe gegeben ist, ZUKÜNFTIGES VORAUSZUEMPFINDEN und aus seinen Visionen heraus zu gestalten.

Und wer, wie kirchliche, politische sowie mediale Verantwortungsträger, vor der Zukunft moralische Verpflichtungen besitzt, müßte darum besorgt sein, daß im kirchlich-kulturellen Bereich eine Scheidung der Geister vorgenommen und geprüft wird, inwieweit die Früchte der künstlerischen Schau einer neuen Lesart der biblischen+platonischen Werte entspringen und den Zeitgeist konstruktiv oder destruktiv mitprägen. Das gilt nicht zuletzt für die MUSIK:

Infolge ihrer atmosphäreprägenden Kraft kommt es darauf an, welche Art von Rhythmik, Harmonik, Melodik und Gestaltung jenem Menschenbild entspricht.

Es lehrt die Erfahrung, daß beispielsweise in Meßfeiern trotz gleicher äußerer Bedingungen (gleicher Zelebrant, gleicher Kirchenraum, gleiche Festtexte etc.) jedesmal eine andere Atmosphäre entsteht, wenn die erklingende Kirchenmusik ausgetauscht ist (Gregorianik, Polyphonie des 16. Jahrhunderts, Wiener Klassikermesse, romantische Messe etwa von Bruckner, Cäcilianisches, süßliche Kitschmusik, heutig-rhythmische Gestaltung etc.). Oder: Man stelle sich einmal vor, was sich im Gottesdienst der Ostkirche an Atmosphäre ändern würde, wenn an die Stelle der wunderbaren Gesänge das hierzulande propagierte rhythmische "Geplerr und Geleyer" (Bach) träte. Die Musik ist eben eine Sprache, die das menschliche Gemüt unmittelbar anspricht, ohne daß sie, die irrationalste aller Künste, durch Vernunft allein wirklich faßbar wird.

Geht man davon aus, daß der TEUFEL ein der Nachfolge Christi abträgliches Klima erzeugen will, um den Menschen im Kern zu demoralisieren, dann bietet sich ihm eine Sprache wie die Musik geradezu an, denn sie zeitigt einerseits emotionale Wirkung und entzieht sich andererseits mit dem Keulen-Argument "Gusto und Watschen sind verschieden" doch jeder eindeutigen verbalen Beweiskraft. Mit Hilfe der Musik gelingt in aller Heimlichkeit ein schleichender Gehirnwäscheprozeß, wie etwa die Dauerberieselung durch die Medien (Heimradio, Autoradio, Fernsehen, Walkman etc.) zeigt, wobei sich der Bogen überwiegend von der seichten, geschmacklosen Unterhaltungsmusik über die erotisch aufgeladene Amüsiermusik bis zur aggressiven Pop- und Rockmusik spannt, während der Normal-Musikkonsument das Wertvolle eher weniger zu hören pflegt; verkürzt gesagt: solcherart wird dem Menschen - dem Erwachsenen, dem Jugendlichen, dem Kind, dem Säugling, ja sogar dem Baby im Mutterleib (das etwa ab der 16. Woche bereits Geräusche hört und ab der 20. Woche auf Rhythmen und Melodien von außen zu reagieren weiß) - die Stille genommen, die innere Voraussetzung für das Beten sowie für das Vernehmen eines göttlichen Rufes (Priesterberufung). Unwillkürlich denkt man an Goethes treffliche Worte aus Faust I, wo er Mephistopheles in Auerbachs Keller sagen läßt: "Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie beim Kragen hätte." Was den Diabolus auf jeden Fall stören muß, das ist eine zukunftorientierte, auf Sammlung und Besinnung ausgerichtete neue geistliche Musik, und daher unternimmt er alles, um eine Auseinandersetzung damit zu verhindern.

Wie groß die atmosphäreerzeugende und identitätsbildende Macht der Musik ist und wie sehr sie zum emotionalen Katalysator zu werden vermag, mögen einige ausgewählte Beispiele aus dem kirchlichen und weltlichen Bereich belegen:


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Spezielle Richtungen der Musik waren es, aus denen atmosphärisch der süßliche Kitsch-Katholizismus genährt wurde, welcher teilweise das kirchliche Leben der vorkonziliaren Zeit bestimmt hatte, sodaß man pointiert sagen kann, sentimentaler Kirchenkitsch ist religiöses Lebensgefühl jener, wenn auch nicht aller Kreise.

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Spezielle Richtungen der Musik waren es, aus denen atmosphärisch die Jugendbewegungen der "vor-68er-Generation" ("Wandervogel" u.a.) ihre Kraft schöpften; Wander- und Lagerfeuerlieder entsprachen ihrem Lebensgefühl.

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Andere spezielle Richtungen der Musik waren es, aus denen atmosphärisch die Bewegung des Nationalsozialismus vorbereitet und getragen wurde; Marschmusik wurde zum Lebensgefühl des Dritten Reiches.

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Wieder andere spezielle Richtungen der Musik waren und sind es, welche atmosphärisch die Erotisierung unserer Zeit bewirkten und bewirken; Schlager, Jazz, Rock, Pop u.a. sind primär weniger Musik denn Lebensgefühl.

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Nochmals andere spezielle Richtungen der Musik waren und sind es, welche atmosphärisch den Progressismus in der Kirche tragen; so sind die gehetzt-fetzig heruntergedroschenen traditionellen Kirchenlieder, die solcherart ihres sakralen Charakters beraubt werden, und vor allem aber die oft banalen, an das Liedgut der Heilsarmee oder amerikanischer Sektengottesdienste erinnernden rhythmischen Kirchengesänge (samt dem orgelverdrängenden Gitarrespieler) weniger eine auf Andacht hinzielende Musik denn Lebensgefühl sowie tönendes Banner des "fortschrittsgläubigen Elements", das blind-fanatisch verfochten wird.

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Und die Klangreihenmusik könnte dazu verhelfen, atmosphärisch ein ebenfalls neues Lebensgefühl, eine Neukultivierung und Neuevangelisierung vorzubereiten und auszulösen.

Unwillkürlich kommt einem jene Stelle aus Platons "Staat" in den Sinn, in welcher der Philosoph von der "Musik" spricht, wobei diese Bezeichnung im griechischen Altertum zunächst im weiteren Sinn die Gesamtheit der musischen Künste und erst im engeren Sinn die Tonkunst ausdrückt: Im Gemeinwesen ist das Äußere des Menschen - seine Haar- und Barttracht, seine Gewandung, seine Beschuhung, die Mode - ebenso von Bedeutung wie die Art der "Musik". Eine neue Art von "Musik" einzuführen würde das Gesamte unter Druck setzen; man rüttelt nicht an den Weisen der "Musik", ohne daß die wichtigsten Grundlagen des Gemeinwesens mit erschüttert würden.

Spinnt man Platons Gedankengang weiter und wendet ihn auf die Liturgie an, wo mehrere musische Künste zusammenwirken, dann fragt man sich: Brachte die Art und Weise, wie man die Liturgie erneuerte, nicht gravierende Haltungsänderungen im Glaubensleben bis hin zu den vielen Kirchenaustritten? Man wollte eine Vertiefung des christlichen Lebens erzielen, doch da hätte die Liturgieerneuerung anders aussehen müssen. Daraus läßt sich aber folgern: Strebt man eine Neuevangelisierung sowie einen Wandel des Zeitgeistes ("Himmel auf Erden") an, dann überprüfe man den derzeitigen Geist der Liturgie und verändere vor allem die "Musik", also die musischen Künste.

Heute, an der Schnittstelle zwischen alten und neuen Anschauungen, wo wir vieles erlöschen sehen und neue Aufbrüche ausmachen können, heute gilt es, zwischen Traditionalistischem und Progressivem eine zukunftsorientierte ausbalancierte Haltung einzunehmen, die den wertvollen Aspekten beider antipodischen Denkweisen gerecht wird. Das Traditionelle beinhaltet einerseits zeitlos gültige Werte, andererseits unterliegt vieles dem Zeitgeschmack und erweist sich als überkommen. Umgekehrt bietet das Fortschrittliche (Progressistische, Avantgardistische etc.) zahlreiche bejahenswerte Innovationen, aber es ist auch viel Überzogenes dabei, das abzulehnen ist. Und da würde die KLANGREIHENMUSIK einen für alle akzeptierbaren Weg der Mitte und Ausgewogenheit beschreiten, sowohl im profanen als auch im sakralen Bereich. Auch wenn die Welt sehr intolerant geworden ist, lebt die Hoffnung fort, daß auf lange Sicht gesehen das Gute für sich spricht. Leider ist heute alles so laut und medienverseucht, "daß man die Stillen nicht schweigen hört" (wie der befreundete Dichter Walter Sachs sinngemäß einmal sagte), und deshalb wird es noch geraume Zeit dauern, bis "stillere" Qualitäten ins allgemeine Bewußtsein einsickern.

So wird es durchaus begreiflich, daß gar mancher von Klangreihenmusik noch nichts gehört hat und dann bei der Begegnung mit deren wohlklingender Zwölftonharmonik positiv überrascht ist. Der in Wr. Neustadt (Niederösterreich) geborene und in Wien beheimatet gewesene JOSEF MATTHIAS HAUER hatte bereits 1919 die Gesetze der Zwölftonharmonik entdeckt, und mein Lehrer OTHMAR STEINBAUER (ein Wiener, der viele Jahre in Wilhelmsburg/Altenburg auf Sommerfrische weilte und dort 1962 auch verstarb) war es, der ab 1930 jene Hauersche, auf Wohlklang beruhende Akkordwelt zu einer zwölftönigen Kompositionstechnik (der sogenannten "KLANGREIHENLEHRE") ausbaute. Nach ihr wurde es endlich möglich, schönklingende melodische und dennoch zwölftönige, also neuartige Musikwerke zu schaffen. Der renommierte Musikpublizist Walter Szmolyan sprach vor vielen Jahren von einer 3. WIENER ZWÖLFTONSCHULE (neben jener von Schönberg und Hauer) und nannte meinen Lehrer Steinbauer als deren Begründer.

Gewiß, der darauf aufbauende Musikstil entspricht zumeist nicht dem "heutigen" Zeitgeist mit seinem Menschenbild, das Klabund so trefflich charakterisierte, sondern er ist vielmehr im christlich-europäischen Weltbild verankert - ein Umstand, der heutzutage bei den Meinungsmachern als unmodern gilt. Den klingenden Beweis dafür vermögen die Beispiele der Internetseite Werkeinspielungen im Internet zu erbringen. Diese geistliche Musik (ergänzt durch die Gedanken des ausführlichen Vorworts zur MISSA "ADORAMUS TE") lasse man auf sich wirken und prüfe, inwieweit sie geeignet ist, eine WENDE DES ZEITGEISTES zugunsten des biblisch+platonischen Menschenbildes einzuleiten sowie Wege der Umkehr anzubahnen.

Das aufrüttelnde Gedicht "Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus" von Bert Brecht, das zwar aus gesellschaftspolitischer Zielrichtung linker Natur entstanden ist, erweist sich - wenn man nur den Mittelteil herausnimmt - von erschreckender allgemeingültiger Aktualität. Jener besagte Abschnitt lautet:
 


...
Neulich sah ich ein Haus. Es brannte. Am Dache
Leckte die Flamme. Ich ging hinaus und bemerkte
Daß noch Menschen drin waren. Ich trat in die Tür und rief ihnen
Zu, daß Feuer im Dach sei, sie also auffordernd
Schnell hinauszugehen. Aber die Leute
Schienen nicht eilig. Einer fragte mich
Während ihm schon die Hitze die Braue versengte
Wie es draußen denn sei, ob es auch nicht regne
Ob nicht doch Wind gehe, ob da ein anderes Haus sei
Und so noch einiges. Ohne zu antworten
Ging ich wieder hinaus. Diese dachte ich
Müssen verbrennen, bevor sie zu fragen aufhören. Wirklich, Freunde
Wem der Boden noch nicht so heiß ist, daß er ihn lieber
Mit jedem andern vertauschte, als daß er da bliebe, dem
Habe ich nichts zu sagen. ...


Das brennende Haus der nachkonziliaren Kirche mit ihren innerlich beinahe abgefallenen Bischöfen, Priestern und Laien benötigte dringendst die rechte Atmosphäre-prägende Musik, welche durch häufige Pflege allmählich in das Bewußtsein einsickert, und oben wurde auf einen Ausweg verwiesen (vielleicht nicht auf den einzig möglichen, doch auf einen jetzt beschreitbaren).

Die Zeit ist noch nie stehengeblieben, jede Epoche besitzt ihre eigenen sowie neuen künstlerischen Ausdrucksformen. Es geht nur darum, ob der vielen Irrwege zu resignieren und beim Alten verbleibend abzuwarten (Pflege alter Musik als Ersatzhandlung), oder doch an die Möglichkeit eines neuen geeigneten Weges zu glauben, ihn bei seiner Begegnung aufzugreifen und nicht "Bewohner eines brennenden Hauses" (nach Brecht) zu bleiben, sondern in dieser Welt der praktizierten Lieblosigkeit, Intoleranz und Gehässigkeit selbst missionarisch tätig zu werden.

Was mich selbst betrifft, bin ich als Komponist, Musiktheoretiker und ehemaliger Musikpädagoge nicht untätig geblieben. Wie schon eingangs erwähnt, bin ich seit jeher brennend an Liturgiefragen interessiert, und so war es mir schon immer ein Anliegen, die atmosphärebildenden sowie zeitgeistreflektierenden Kräfte der Musik in den Dienst gläubiger Verkündigung zu stellen:

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In meiner Dornbirner Zeit als Volksschullehrer (1955-57) und anschließend in der Schweiz (Montreux) war ich als autodidaktisch heranwachsender Komponist bis an die Grenzen der avantgardistischen Praktiken gelangt und hatte innerlich bald gespürt, daß diese Wege meinem religiösen Wollen widersprachen.

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Ich gab den Lehrberuf auf und wollte mit meinem Studium in Wien (Musikakademie) einen neuen Anfang setzen. Dabei führte mich der Weg "zufällig" (es war wohl "Vorsehung") auch zum "ausgegrenzten" Komponisten Othmar Steinbauer. Er hatte mit der Klangreihenlehre eine zwölftönige Satzlehre, eine Art "Harmonielehre" entwickelt, nach der es möglich wurde, eine schönklingende zwölftönige Musik zu komponieren. In dieser Klangreihenmusik, etwa in dessen Chor "Halt an, wo läufst du hin" (Angelus Silesius), in seiner 1. Violinsonate oder im Tricinium "Die Ros' ist ohn' Warum" (Angelus Silesius), sah ich sowohl den musikalischen Fortschritt (Zwölftönigkeit) als auch das Bedürfnis nach Wohlklang und Harmonie vereinigt. Ich hatte gefunden, was ich unbewußt gesucht hatte (siehe: Linkverzeichnis "Nova Musica Sacra"
).

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Da Steinbauers Klangreihenlehre von der Zwölftonharmonik J. M. Hauers ausging, lernte ich auch einige von dessen Zwölftonspielen kennen, darunter vor allem jenes für Streichquartett vom 30.1.1957 ( = privater Mitschnitt einer Rundfunksendung), ein Musterbeispiel für eine im religiösen Bereich (etwa bei Andachten o.dgl., aber auch in der pastoralen Unterweisung u.a.) verwendbare Meditationsmusik.

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Mit meinem 1963 entstandenen AVE REGINA CAELORUM (enthalten auf der CD "Rosettenklänge") setzte ich erstmals meine kirchenmusikalischen Vorstellungen auf der Basis der von mir entwickelten "Parallelen Klangreihen" um.

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Meine bereits erwähnte MISSA "ADORAMUS TE" (1963/64) zeigt, wie sich das Richtmaß des heiligen Papstes Pius X. (Motu proprio "Inter pastoralis officii curas" von 1903) sowie die liturgischen Vorgaben des 2. Vatikanums auf Klangreihenbasis würdig mit Leben erfüllen lassen.

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Für eine Klangreihen-orientierte Meditationsmusik sei mein Werk DER ENGEL DES HERRN, op. 38, aus dem Jahr 1974 angeführt, wo der Angelus-Text von Oberstimmen gesungen und die drei Ave-Maria-Gebete durch instrumentale Meditationsmusik für Violine und Orgel ersetzt erscheinen.

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Weiters legte ich mit meinem auch im Internet abhörbaren DUO LITURGICO (mit den Satztiteln Praeludium - Introitus - Graduale - Offertorium - Communio - Postludium, auch im Internet abhörbar) eine für Meßfeiern geeignete rein instrumentale Propriumsmusik vor.

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Eine interessante Sonderstellung nimmt die MEDITATION, op. 43a ein (siehe auch die im Internet hörbare Fassung op. 43c). Da im Dienste der Liturgie der für Musik zur Verfügung stehende Zeitrahmen variiert, läßt sich dieses Opus in verschiedenen Längen ausführen. Darüber hinaus wird an dieser Komposition nachvollziehbar, wie ein Organist eine solche Meditation selbst entwickeln und zu Papier bringen kann. Die satztechnischen Grundlagen dazu sind erlernbar, und deren Unterweisung würde reizvolle innovative Impulse in die kirchenmusikalische Ausbildung sowie für die Organistenpraxis (meditatives Präludieren mit Klangreihenharmonik) einbringen.

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In Bamberg demonstrierte ich in einem Schulversuch, wie Schüler - nicht nur der gymnasialen Oberstufe, welche eine PASSACAGLIA (
) schufen (siehe Presseecho), sondern sogar schon Zwölfjährige - in Schulkonzerten präsentierbare Musikstücke zu Papier bringen können. Was halbwüchsige Gymnasiasten zustande bringen, ist für angehende Organisten ebenso möglich. (Die Noten der genannten Passacaglia samt Analyse und Entstehungsgeschichte erschienen im Rahmen meines Buches "Kreatives Spielen mit Tönen" (Gustav Bosse Verlag, Regensburg, 1976.)

-

Wenn ich gelegentlich zum Orgelspiel bei Messen eingeladen werde, habe ich es mir seit Jahren in Absprache mit dem Zelebranten zur Gewohnheit gemacht, während der Kommunion und der anschließenden Purifikation eine dem Anbetungscharakter angemessene Musik einzuplanen, wobei ich auf meine Meditationen op. 19b (Orgel allein oder ein Melodieinstrument wie Flöte, Fagott u.dgl. plus Orgel), op. 43a, 43c, die "Communio" aus meinem "Duo liturgico" u.a.m. zurückgreife. Die Meßbesucher haben dies jedesmal zu schätzen gewußt.

Es existiert also bereits einiges, das sowohl die von Materialismus und Hedonismus stark geprägte Gesellschaft beeinflussen als auch die Kirchenmusik befruchten und somit einer Neuevangelisierung dienlich sein könnte. Zu einem Missionsauftrag gehört freilich auch das Wort des Apostels Paulus: "Prüfet alles; und was gut ist, behaltet" (1. Thess. 5,21) mit all seinen Konsequenzen.

Da sich der wahre Wert einer Musik erst über das Ohr erschließt, möge jedem Besucher dieser Internetseite die Gnade des rechten Hörens und Beurteilens von oben geschenkt werden, damit es mit Hilfe einer zeitgemäßen neuen Musik zu dem zu führen vermag, was das 2. Vatikanische Konzil anstrebte und in seinem allerersten Text (Konstitution über die heilige Liturgie, feierlich verkündet am 4. Dezember 1963) im allerersten Absatz folgendermaßen formulierte:

"Das Heilige Konzil hat sich zum Ziel gesetzt, das christliche Leben unter den Gläubigen mehr und mehr zu vertiefen, die dem Wechsel unterworfenen Einrichtungen den Notwendigkeiten unseres Zeitalters besser anzupassen, zu fördern, was immer zur Einheit aller, die an Christus glauben, beitragen kann, und zu stärken, was immer helfen kann, alle in den Schoß der Kirche zu rufen. Darum hält es das Konzil auch in besonderer Weise für seine Aufgabe, sich um Erneuerung und Pflege der Liturgie zu sorgen."

Die Kirchenmusik zählt zu jenen "Einrichtungen", die dem Wechsel unterworfen sind und die den Notwendigkeiten unseres Zeitalters besser anzupassen sind. Erfüllen die sakralen Werke der Klangreihenmusik nicht in vorbildlicher Weise das Ziel des Konzils?

Es ist zu fördern, was immer zur Einheit aller, die an Christus glauben, beitragen kann. Nach dem oben genannten Motu proprio des heiligen Papstes Pius X. hat die Kirchenmusik allgemein zu sein ("Die einzelnen Völker dürfen wohl in den kirchlichen Weisen gewisse Formen anwenden, die gleichsam die Eigentümlichkeiten ihrer Musik bilden; diese Formen müssen aber dem allgemeinen Charakter der Kirchenmusik derart untergeordnet sein, daß kein Angehöriger eines anderen Volkes beim Anhören derselben einen unangenehmen Eindruck empfängt"); wenn dies für unterschiedliche Völker gilt, dann noch viel mehr für Gläubige verschiedenen Lebensalters in unserem Kulturkreis. "Rhythmische Gesänge", "neue geistliche Lieder", jugendgerechtes Liedgut" oder wie immer man die banalen Serienprodukte bezeichnen will, sie tragen nicht zur Einheit bei, sondern zur Spaltung. Ihre Förderung im Sinne der Zielsetzung des Konzils gilt es zu hinterfragen.

Schließlich ist zu stärken, was immer helfen kann, alle in den Schoß der Kirche zu rufen. Dieser Missionsauftrag ist nur durchführbar, wenn in der römisch-katholischen Kirche und ihrer Liturgie, deren Kirchenmusik mit eingeschlossen, die Qualität stimmt. Wie soll ein für Kunst aufgeschlossener Protestant zum Konvertieren bewegt werden, wenn ihm das primitive Liedgut zuwider ist?

Allgemein gefragt: Wie steht es heute wirklich, Jahrzehnte nach dem Konzilsbeschluß? Welche Früchte hat das nachkonziliare liturgische Herumreformieren gebracht?
Bewahrheitet sich etwa gar jenes Wort über das Anbiedern: "Wer jemandem nachläuft, sieht nur seinen Rücken"? Wurden wirklich die richtigen Wege beschritten, um den Zielvorstellungen von 1963 gerecht zu werden? Oder sollte man nicht doch auch andere Richtungen einzuschlagen versuchen, etwa im Sinne Platons mit einer anderen Musik?

(Textfassung vom 28.9.2015; derzeitige Letztfassung)





Johann Sengstschmid






Weiterführende Informationen in Wort und Ton siehe:

Zwölftonmusik
Gegenüberstellung der 3 Wiener Zwölftonschulen
Zwölftonspiel - kreatives Spielen - Klangreihenkomposition

Klangreihenmusik
Zur Einführung in die Klangreihenmusik
Eigenschaften der Klangreihenmusik
Klangreihenmusik (Gesamtüberblick)
Das Komponieren mit Klangreihen


Othmar Steinbauer
Johann Sengstschmid

Publikationen (Noten von besinnlicher und geistlicher Klangreihenmusik)
Verzeichnis von Notenzitaten
Schriften und ausgewählte Aufsätze

aus dem Theorie-Skriptum: Notenbeispiele, Analyse, Tabellen u.a. (Verzeichnis)

J. M. Hauers Zwölftonspiel vom 30.1.1957 als Musterbeispiel für eine Meditationsmusik
Skriptumblätter zum Chor "Halt an, wo läufst du hin", Werk 8, von Othmar Steinbauer
Skriptumblätter zum Tricinium "Die Ros' ist ohn' Warum", Werk 19, von Othmar Steinbauer

Skriptumblätter zum "Ave regina caelorum", op. 19, von Johann Sengstschmid
Begleitwort zum "Ave regina caelorum", op. 19a, von Johann Sengstschmid
sowie zu dessen Instrumentalfassungen

Begleitwort zur MISSA "ADORAMUS TE", op. 21, von Johann Sengstschmid
Analyse: aus der MISSA "ADORAMUS TE", op. 21, von Johann Sengstschmid
Begleitwort zur "Meditation für Orgel", op. 43a, von Johann Sengstschmid
Formbeschreibung der "Meditation für Orgel", op. 43a, von Johann Sengstschmid
Satzanalyse der "Meditation für Orgel", op. 43a, von Johann Sengstschmid
Begleitwort zum "Duo liturgico", op. 45, von Johann Sengstschmid

Fachbegriffe (Stichwortverzeichnis)

Hinweis auf die Klangreihenmusik
Resonanz

Klangreihenmusik: Musik mit neuer "Antriebskraft"
Elemente der Renaissance- und Barockmusik in der Klangreihenmusik

Besinnliche Klangreihenmusik für stille Stunden
Gedanken über eine religiöse Vorprogrammierung im Säuglingsalter

Links
Linkverzeichnis "Nova Musica Sacra"

Linkregister (öfters gesuchte Links)


Information: Neue Wege kreativer Musikerziehung
Information: Neue Wege besinnlicher und geistlicher Musik


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